Missbrauch, Schuld und Aufarbeitung

Am vergangenen Donnerstag hat unser Erzbischof Stefan Heße Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten. Er reagiert damit auf die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts zu Fragen des Missbrauchs im Erzbistum Köln. Das Gutachten hatte dem Erzbischof in seiner vorherigen Funktion als Personalchef und Generalvikar in Köln Verfahrensfehler im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen nachgewiesen. Ich denke, es ist im Umgang mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche wichtig, dass das Handeln der jeweiligen Bistumsverantwortlichen untersucht wird. Zu einer ehrlichen Aufarbeitung gehört auch, Schuld und Versagen klar zu benennen. Unser Erzbischof hat deutlich gemacht: Ich bekenne mich zu meiner Verantwortung und trage die Konsequenzen für meine Fehler. Ich finde das richtig. Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung.

Viele haben mich in diesen Tagen gefragt, wie es jetzt weitergeht. Daher nur kurz ein paar Bemerkungen: Der Erzbischof ist so lange noch im Amt, bis der Rücktritt angenommen wird. Rom könnte aber auch anders entscheiden. Erzbischof Stefan hat die laufenden Geschäfte erst einmal seinem Generalvikar Ansgar Thim übergeben. Sollte das Rücktrittsgesuch angenommen werden, erlischt auch das Amt des Generalvikars. Laut Kirchenrecht übernimmt dann zunächst Weihbischof Horst Eberlein die Leitung des Bistums. Er ruft dann das Domkapitel zusammen, das einen Diözesanadministrator wählt. Die weitere Entwicklung werden also die nächsten Tage zeigen.

Mir ist es wichtig, in diesem Zusammenhang etwas über die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zu sagen. Das Beispiel Köln zeigt ja, wie schwierig die Aufarbeitung sein kann. Sexueller Missbrauch ist ein schweres Verbrechen. Die Betroffenen leiden teilweise ihr Leben lang darunter. Ich habe es selbst vor nicht allzu langer Zeit im Gespräch mit einem Mann erlebt, der als Kind mehrfach von einem Priester missbraucht wurde. Er sagte mir, selbst jetzt noch, im hohen Alter, suchen ihn die schlimmen Erfahrungen von damals immer wieder heim. Er findet keine Ruhe. Seine Seele ist für immer davon gezeichnet. Für viele Betroffenen ist es daher unheimlich wichtig, gehört zu werden, ernst genommen zu werden. Sie erwarten, dass die Kirche ihnen hilft und sie erwarten, dass die Kirche zu ihrer Verantwortung steht, die Täter bestraft, aber auch die Schuld der Verantwortlichen benennt, die vielfach über das Leid hinweggegangen sind und Anschuldigungen nicht oder unzureichend nachgegangen sind. Viele Bistümer schauen daher, wie sie in geeigneter Weise die Vergangenheit aufarbeiten können. Das Gutachten in Köln ist nur eins von vielen. Andere Bistümer, etwa Aachen oder Berlin haben schon Ergebnisse vorgelegt. Auch für die Bistumsregion Mecklenburg läuft derzeit ein solches Aufarbeitungsprojekt. Wie kann das gut gelingen? Ich bekomme in Diskussionen immer wieder den Hinweis, dass es doch ungerecht sei, vergangene Vorgänge nach heutigen Maßstäben zu beurteilen. Schließlich haben sich moralische Vorstellungen, der gesellschaftliche Kontext aber auch kirchliche und weltliche Rechtsvorschriften im Lauf der Zeit gewandelt. Das stimmt. Das Kölner Gutachten als juristisches Gutachten, stellte daher die Frage, ob die Verantwortlichen, Bischöfe, Priester, Personalchefs, Kirchenrechtler auf der Grundlage der damals geltenden Rechtsvorschriften und Verfahrensregeln gehandelt haben. Es listet Verstöße gegen staatliche und kirchliche Vorgaben auf, etwa, ob sie in staatlichen Ermittlungsverfahren kooperiert haben, ob die seit 2011 erforderten Meldungen von Verdachtsfällen zur Prüfung nach Rom weitergegeben wurden, ob ordnungsgemäße Vernehmungen von Beschuldigten erfolgten oder ob man sich um die Betroffenen gekümmert hat. Das ist ein Weg, um Schuld und Versagen objektiv nachzuweisen. Es reicht aber nicht aus.

Die heutige Lesung aus dem Buch Jeremia gehört zu den Schlüsselstellen des Alten Testaments:

Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des Herrn. Denn das wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des Herrn: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen – Spruch des Herrn. Denn ich verzeihe ihnen die Schuld, an ihre Sünde denke ich nicht mehr (Jer 31,31-34).  

Es geht in diesem Text um das Gesetz. Mose hatte von Gott das Gesetz empfangen, Rechtsvorschriften, die auf steinernen Tafeln aufgeschrieben waren. Das Gesetz regelt das richtige Verhalten des Volkes Israel zu Gott und der Menschen untereinander. Doch wie manchmal bei Gesetzen war es so: Was aufgeschrieben ist das eine, wie die Menschen handeln etwas anderes. Deshalb ermahnten die Propheten die Menschen immer wieder, dem Gesetz zu folgen. Manchmal half das etwas, manchmal auch nicht. In einigen Schriften des Alten Testaments hat man den Eindruck: Was wirklich im Gesetz geschrieben steht interessierte niemanden mehr so richtig. Die Israeliten, vor allem aber auch die Könige und Führer des Volkes machten, was sie wollten. Sie fielen vom Glauben an Gott ab, sie kümmerten sich nicht um das Wohl des Volkes, sie sorgten nicht mehr für Gerechtigkeit. Deshalb sagt Jeremia, Gott werde seinen Bund erneuern. Das Gesetz soll nicht mehr in Stein geschrieben sein, sondern auf den Herzen der Menschen. Das Herz war im jüdischen Denken der Sitz des Verstandes. Es geht also darum, das Gesetz nicht äußerlich, sondern innerlich zu beachten und zu verstehen, es sich einzuprägen. Aus einer Rechtsordnung wird eine tiefe innere Überzeugung. Das Gesetz ist in Wirklichkeit ein moralischer Kompass. Es ist so etwas, das wir heute ein Ideal, einen Wert oder eine Tugend nennen, also eine tiefe innere Überzeugung, die unser Tun leitet.

Ich glaube, das ist ein wichtiger Gedanke, gerade im Umgang mit dem Missbrauch in der Kirche, aber auch außerhalb der Kirche. Es geht um den richtigen moralischen Kompass. Es geht nicht bloß darum, sich an äußere Verfahrensregeln zu halten, sondern gegen den Missbrauch vorzugehen aus tiefer Überzeugung. Das zumindest hätte man aus dem Evangelium wissen müssen. Gewalt gegen Kinder und Schutzbefohlene war aus christlichem Erbe heraus niemals erlaubt. Es ist in diesem Fall genau dieses moralische Versagen, das mich bestürzt. Die Kirche hätte es aus ihren eigenen Quellen heraus besser wissen müssen. Moralisches Versagen nennt man theologisch „Schuld“. Diese Schuld ist etwas anderes als ein gerichtlicher Schuldspruch. Die persönliche Schuld wiegt mindestens genauso schwer. Diese Schuld lässt sich nicht durch äußere Verfahren aufarbeiten, sondern nur in einem Prozess der Umkehr und Buße, der allerdings dann auch alles daran setzt, die Folgen der Schuld so gut es geht zu mindern. Hier wird die Fastenzeit auf einmal ganz konkret: Schuld einsehen, Schuld bekennen, Schuld aufarbeiten.

Ich möchte sie bitten, in diesen Tagen die Betroffenen des Missbrauchs in ihr Gebet aufzunehmen. Ich möchte sie auch bitten, unser Bistum in ihr Gebet aufzunehmen. In ein Gebet nicht nur für eine gute Zukunft, sondern auch um den beständigen Geist und Willen zur Umkehr.

5 Kommentare zu „Missbrauch, Schuld und Aufarbeitung

  1. Dieser Predigttext zeigt auf wie die Kirche sich verändern muss. Dank für die Aussage.
    Wir beten für Opfer des Missbrauch in Kirche und Gesellschaft. Für die Kirche im Norden und dem Menschen Stefan Hesse.

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  2. Herzlichen Dank für diesen Beitrag. Ich finde ergänzend folgende Berichterstattungen lesenswert: Quelle: die katholische Tagespost: https://www.die-tagespost.de/kirche-aktuell/aktuell/maria-20-war-fuer-uns-keine-unterstuetzung;art4874,216797
    und Tichys Einblick (einfach auf den Button drücken „Ich unterstütze bereits“, diese kleine Notlüge darf einem Christen erlaubt sein, man unterstützt ja auch durch Lesen, und dann wird der Beitrag lesbar), von Michael Feldkamp: https://www.tichyseinblick.de/gastbeitrag/gutachten-zu-missbrauchsfaellen-kardinal-woelki-hat-zu-keiner-zeit-seine-pflicht-verletzt/
    Der verantwortungsvolle Umgang mit Aufklärung durch Kardinal Woelki ist vorbildlich, auch weil es gilt, jene zu schützen, die unschuldig in Verdacht geraten. Es muss für einen Prieser eine schwere Bürde sein, unschuldig zu sein und in Verdacht zu geraten.

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  3. Haben Sie das gelesen? https://www.epochtimes.de/politik/deutschland/missbrauchsskandal-gemeinde-hat-vertrauen-in-erzbischof-verloren-firmung-durch-woelki-abgelehnt-a3520338.html
    Die sogenannte Reformbewegung Maria 2.0 hört nicht auf, Menschen öffentlich anzuprangern. Wenn man sich mit dem Thema intensiver beschäftigt, etwa das Interview der Betroffenen zur Rolle Maria 2.0 kennt, und die Dinge hinterfragt, kommt man zu ganz anderen Eindrücken. Was passiert hier?

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